Für viele Migrantinnen ist der Schwimmsport mit hohen Hemmschwellen behaftet. Sie haben in ihren Herkunftsländern Schwimmen nie gelernt, weil es dort für Frauen und Mädchen unüblich ist. Bei speziellen Schwimmkursen lernen die Frauen nicht nur das Schwimmen, sondern finden ihre eigenen Stärken heraus und gewinnen Sicherheit in der neuen Heimat.
Text: Lena Kaiser
Fotografie: Maria Feck
Svenja Christiansen sorgt für Geschlechtertrennung. Sie wartet im kleinen Eingangsbereich des Schwimmbades auf dem Schulgelände in Hamburg-Eidelstedt. Acht Frauen drängen in die Räume der Umkleidekabine. „Achtung, es kann sein, dass da noch ein Mann ist“, warnt Christiansen. „Och, das macht doch nichts“, sagt eine Frau mit Pelzmütze. Die anderen lachen. Der Kurs, den sie besuchen, richtet sich an Frauen, die schwimmen lernen wollen. Damit auch muslimische Frauen teilnehmen, ist die Begegnung mit Männern unerwünscht.
Mit Mitte 50 noch schwimmen lernen? Die Eingebung kam Olga Andrejew*, als ihr im Bürgerhaus im Hamburger Stadtteil Osdorf ein Flyer in die Hand fiel. Warum denn eigentlich nicht? Bei diesem Anfängerkurs hätte sie die Gelegenheit, nachzuholen, was ihr früher in Russland entgangen ist. Wie schön es wäre, sich im Urlaub auch mal ins Wasser zu trauen. Ihre Tochter Nadia*, ebenfalls Nichtschwimmerin, nimmt sie gleich mit.
Die beiden Russinnen sind christlich. Weil auf dem Flyer stand, dass der Kurs für „muslimische“ Frauen sei, wollte Andrejew von der Volkshochschule wissen, ob sie dennoch teilnehmen kann. Doch der Kurs ist offen für alle Frauen. Laut Volkshochschule soll der Zusatz klarmachen, dass die Kursteilnehmerinnen auch im Schwimmbad auf keine Männer treffen werden, denn sonst wäre der Unterricht aus religiösen Gründen für die Muslima nicht möglich.
Das Ziel, sich auch längere Zeit allein an der Oberfläche des Wassers zu halten, liegt beim fünften Termin des Kurses fast zum Greifen nahe. Acht Frauen warten in Badelatschen und Flip-Flops am Beckenrand: die Andrejews und sechs Afghaninnen. Eine trägt einen Bikini mit sportlicher Hose, die anderen klassische Badeanzüge. Alle haben sich mit einer Badekappe bedeckt – freiwillig? „Nein“, rufen sie und lachen. „Das ist hier Pflicht.“
Bevor sich die Frauen trauen loszuschwimmen, schnappen sie sich eine Poolnudel, die auf einem Haufen am Beckenrand liegt. Sie klemmen sich die Schaumstoffschläuche unter die Arme und wagen die ersten Schwimmzüge.
Die Schwimmhilfen geben ihnen noch Sicherheit. Eine junge Afghanin, rote Lippen, luftige Badekappe, versucht es ohne. Ruckartig und hektisch rudert sie mit Armen und Beinen. Mit dieser Technik
hält sie sich nur mit Mühe über Wasser, am Ende der Bahn zieht sie sich an den Beckenrand, dann versucht sie es erneut. „An Kraft mangelt es hier nicht“, sagt Svenja Christiansen, die den Kurs
leitet. Aber die Afghanin müsse noch ein bisschen ruhiger werden. Spannung in den Körper bringen, auf die Füße achten, ruhige Bewegungen – all das sei wichtig beim Schwimmen, sagt Christiansen.
Im Vorraum knarzt ein Scharnier. Christiansen horcht auf, sie schaut etwas misstrauisch zur Tür, durch die gleich ein Mann in das Schwimmbad treten wird. Er trägt einen Werkzeugkasten – ein Handwerker. „Um Gottes willen“, sagt Christiansen, die ihre blonden langen Haare unter der Badekappe versteckt hat. „Das geht bei einem Frauenkurs natürlich nicht.“ Sie eilt aus dem Becken und schickt ihn wieder hinaus. Die Frauen verfolgen indes unbeirrt weiter ihre Übungen.
Sich im Wasser sicher zu bewegen, das sollen die Frauen an zehn Terminen lernen, wenn es gut läuft. Weil er vom Verein „Bildung für alle“, Förderverein der Hamburger Volkshochschule, gefördert wird, kostet der Kurs nur 10 Euro. Was die Russinnen und Afghaninnen in diesem Schwimmkurs verbindet, ist die Unzufriedenheit mit einem Unvermögen: schwimmen lernen, das bedeutet für sie auch ein Stückchen Freiheit. In Russland konnten, in Afghanistan durften sie das nicht. Hier in Deutschland, wo sie jetzt leben, ist das anders.
Dass sie nun hier Fähigkeiten erlerne, die ihr früher nicht zustanden, sei für ihren Mann in Ordnung, sagt die Afghanin Mary Halim. Nur zusammen gingen sie nicht schwimmen. „Deshalb lerne ich es hier.“ Halim ist Vorsitzende des afghanischen Frauen- und Familienvereins „Canon“, der sich unter anderem für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzt. „Früher hatte ich viel Angst“, sagt sie, „jetzt freue ich mich schon darauf, endlich wieder ins Wasser zu gehen.“
Schwimmen sei gut für ihre Gesundheit, sagt Halim. Sie ist ehrgeizig. Mit ihrer kleinen Schwimmbrille und einer schwarzen Badekappe von Adidas konzentriert sie sich Bahn für Bahn auf ihre Bewegungen. Die 45 Minuten, die der Kurs dauert, sind ihr zu knapp. Vor lauter Vorfreude können auch alle anderen vor Kursbeginn kaum abwarten, ins Becken zu steigen. Immer wieder muss Christiansen es sagen: „Geht bitte nicht ins Wasser, solange ich noch nicht da bin.“
Christiansen hat inzwischen fünf Jahre Erfahrung mit Anfängerkursen wie diesem. Wer so spät schwimmen lernt, muss oft zuerst diese Angst überwinden. Zu Beginn des Kurses sollen sich die Teilnehmerinnen deshalb vorsichtig ans Wasser herantasten, erst bis zum Kinn, dann machen sie sich das Gesicht nass. Im nächsten Schritt halten sie den Kopf unter Wasser und atmen aus. Schon das kostet viel Überwindung. Viele glauben, dass man schwimmen könne, ohne mit dem Gesicht unterzutauchen. Christiansen erklärt ihnen dann, dass das nicht funktioniert.
Manche kommen in den Kurs, weil sie von anderen gehört haben, die ertrunken sind. Wie gefährlich das Baden für Ungeübte sein kann, hat sich im Sommer 2016 in Hamburg gezeigt. Drei Flüchtlinge sind allein an einem einzigen warmen Wochenende beim Baden verunglückt, im Allermöher See und am Elbstrand.
Olga Andrejew hat Zweifel, ob sie es an nur zehn Terminen schafft, sich sicher im Wasser zu bewegen. In Badeanzug, Latschen und Badekappe ist schon eine Frau für den nächsten Kurs ins Schwimmbad gekommen. „Aber bitte noch warten, bis dieser Kurs fertig ist“, sagt Christiansen. Auch die Frauen aus dem nächsten Kurs wollen jede Minute nutzen. Beim letzten Mal hatte sich die Frau unter den Vorgängerkurs gemischt.
Die Teilnehmerinnen haben Fortschritte gemacht. Wenn sie erst die Technik beherrschen, wäre es gut, dass sie in der Übung bleiben. Aber für Frauen, die Männern in Bädern nicht begegnen wollen
oder dürfen, ist das Angebot überschaubar.
* Name von der Redaktion geändert
Originalartikel unter http://achtmagazin.de/badekappen-fuer-ein-stueckchen-freiheit/